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Der Bildungsartikel von 1874: Medienecho und politische Debatte

02.10.2024

Die Debatten um die Einführung des Bildungsartikels in der revidierten Verfassung liessen auch nach dessen Einführung nicht nach. Dieser Beitrag illustriert die Meinungsverschiedenheiten anhand einiger Presseartikel, die zwischen 1870 und der Gründung der EDK im Jahr 1897 erschienen sind.

Zeitungslesende Frau anno 1900
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(c) Paul Senn (Gottfried Keller Stiftung, GKS)

Einführung

Ende des 19. Jahrhunderts trugen sowohl die konservativen als auch die liberalen politischen Kräfte ihre Ansichten in den Medien sehr pointiert vor  – ein Erbe des Kulturkampfes, der vor der Verabschiedung der neuen Verfassung seinen Höhepunkt erreicht hatte (siehe Artikel vom 29. Mai 2024 ). Fragen rund um Privatschulen und konfessionelle Schulen sowie die Ausarbeitung neuer kantonaler Verfassungen und Schulgesetze führten zu lebhaften Auseinandersetzungen. Auch die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen und die finanzielle Unterstützung des Bundes zur Erfüllung der kantonalen Aufgaben wurden heftig diskutiert.

Ohne den Anspruch einer wissenschaftlichen oder gar systematischen Untersuchung zu erheben, sollen diese Debatten anhand einiger in den Zeitungen vorgebrachter Argumente veranschaulicht werden. Einen Höhepunkt erreichten die Kontroversen, als am 26. November 1882 der Entwurf eines Bundesbeschlusses betreffend die Vollziehung des Artikels 27 der Bundesverfassung (Schulvogt) zur Abstimmung kam und abgelehnt wurde. Die Auseinandersetzungen wurden dennoch fortgesetzt bis zur Gründung der EDK im Jahre 1897 und der Ausarbeitung der rechtlichen Grundlagen über die finanzielle Unterstützung der Kantone durch den Bund zur Erfüllung ihrer Aufgaben.

Die konfessionellen Fragen

Wie in den meisten europäischen Staaten kam es in der Schweiz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den sogenannten Kulturkämpfen. Dabei ging es in erster Linie um die Emanzipation der neugebildeten Nationalstaaten vom Einfluss der Kirche. Die Konfliktlinie um die Frage, ob die Schule dem Staat oder der Kirche gehören soll, prägte auch die Debatten um die Einführung des Unterrichtsobligatoriums und später um die Einsetzung eines eidgenössischen Erziehungssekretärs. Die liberalen Befürworter einer staatlichen Kontrolle warfen der katholischen Kirche und dem politischen Katholizismus Demokratiefeindlichkeit, ein Eigeninteresse an der «Beschränktheit der Massen» und eine Verhinderung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts vor.

«Um die Religion wie die Gegner vorgeben, handelt es sich nicht, die Religion ist eine Sache, die man keinem aus dem Herzen reissen kann – dass sie «gefährdet» sei, ist Volksbetrug, wie es noch immer Volksbetrug […] war, wenn die «Pfaffen» die Religionsgefahr predigten, um einen ideellen Fortschritt zu hintertreiben».

(Aus einem Artikel erschienen am 19. August 1882 im Grütlianer)

Umgekehrt wehrte sich die Kirche gegen die Abschaffung des konfessionell geprägten Unterrichts und unterstellte ihrerseits dem Staat, die Schulen zur Beherrschung des Volkes zu missbrauchen. Nachstehendes Gebet eines eigens gegründeten Luzerner «Gebetsvereins für die Erhaltung von guten Schulen in der Schweiz» an den heiligen Joseph illustriert diese Haltung.

«Du Patron der heiligen katholischen Kirche, sei auch der Patron unserer Schule, bewahre sie vor falschen Lehren und erhalte ihr den Glauben der heiligen römisch-katholischen Kirche».

(Aus einem Artikel erschienen am 18. November 1882 in Der Bund)

Auch nach 1874 blieb das schweizerische Schulwesen regional christlich-katholisch geprägt. Von einer säkularisierten Schule, in der das tägliche Gebet sowie religiöse Lieder und Geschichten ganz wegfallen, kann erst ab den 1970er Jahren die Rede sein.

1884 forderten die drei katholisch-konservativen Nationalräte Josef Zemp, Johann Joseph Keel und Martino Pedrazzini  per Motion eine Teilrevision der Bundesverfassung, um die mehrheitlich konfessionnell geprägten Privatschulen zu schützen. Der Staat habe laut Zemp bezüglich des Privatunterrichts nur die Pflicht, ein «gewisses Mass des Wissens» sicherzustellen. Bei der geistigen Ausrichtung des Unterrichts stehe dem Staat jedoch kein Recht auf Kontrolle zu. Weiter habe der Staat auch nicht mitzureden bei der Wahl der Lehrer, Lehrmittel und Lehrmethoden. Pedrazzini doppelte nach und argumentierte, dass der «Familienvater Herr über die Erziehung seiner Kinder sein soll» und niemand eine konfessionslose Schule wolle.

Karikatur zur obligatorischen Schulpflicht im Kanton Zürich, erschienen im «Züricher Kalender» von 1870, Link
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Karikatur zur obligatorischen Schulpflicht im Kanton Zürich, erschienen im «Züricher Kalender» von 1870,

Wirtschaftliche, militärische und demokratische Fragen

Kritiker des Schulobligatoriums führten auch nicht religiöse Argumente ins Feld. Eine oft geäusserte Sorge bei der Auseinandersetzung um den Bildungsartikel galt der wirtschaftlichen Belastung für Familien. Weil die Kinder nicht selten Arbeiten auf dem elterlichen Hof oder in den Fabriken zu verrichten hatten, würde ein Schulobligatorium zu einem Mangel an Arbeitskräften führen.

Der Arbeiterbewegung nahestehende Befürworter des obligatorischen Primarunterrichts wiederum argumentierten, dass ein gebildetes Volk seine wirtschaftliche Lage eher verbessern könne als ein ungebildetes.

Die Forderungen nach einem gesamtschweizerischen Unterrichtsobligatorium waren auch mit anderen Reformbestrebungen verknüpft. So wurde beispielsweise in einem Artikel des Zuger Volksblatts, erschienen am 8. Mai 1872, geltend gemacht, dass ein obligatorisches Bildungswesen für das Militärwesen und die demokratische Entscheidfindung unerlässlich sei. Mit der Revision der Bundesverfassung von 1874 wurde auch die  allgemeine Wehrpflicht konkretisiert, wobei fortan die Tauglichkeit darüber entscheiden sollte, ob ein junger Mann eingezogen wurde oder nicht. Dies wurde zum Anlass genommen, zu betonen, dass militärische Stärke nicht nur von der körperlichen Verfassung, sondern auch von der geistigen Bildung seiner Soldaten abhängig sei. Folgerichtig lieferten ab 1875 die pädagogischen Rekrutenprüfungen (heute eidgenössische Jugendbefragungen ch-x) statistische Daten für die Verbesserung des Schulwesens. Ebenfalls zeitgleich gab es Bestrebungen, das Initiativrecht des Stimmvolkes auf Bundesebene einzuführen. Auch in diesem Zusammenhang wurde die Notwendigkeit eines Unterrichtsobligatoriums ins Feld geführt, weil dem Stimmbürger «ein gewisser Grad von Bildung nicht abgehen» dürfe, um einen mündigen Entscheid treffen zu können.

Die neuen kantonalen Verfassungen und Schulgesetze nach 1874

Die Kantone waren verpflichtet, für ihre Verfassungen die Gewährleistung des Bundes nachzusuchen. In den Jahren nach der Annahme der Bundesverfassung von 1874 wurden seitens der Kantone neue Schulgesetze ausgearbeitet. Obwohl diese Gesetze dem Bund nicht vorgelegt werden mussten, führten zahlreiche Beschwerden an die Bundesbehörden über die Vereinbarkeit dieser Gesetze mit den in Artikel 27 festgelegten Grundsätzen zu politischen Auseinandersetzungen in den eidgenössischen Räten, die auch in der Presse ein breites Echo fanden.

Nachdem das Luzerner Stimmvolk am 28. Februar 1875 die neue Kantonsverfassung angenommen hatte, verlangte die Regierung eine Bundesgarantie für den Text. Eine von Mitgliedern des Luzerner Grossen Rates initiierte Petition an die eidgenössischen Räte verlangte hingegen die Ablehnung dieser Garantie. Diese Mitglieder des kantonalen Parlaments, eine liberale, aber sehr aktive Minderheit, argumentierten, dass der Kanton seine Aufsichtspflicht und seine Verantwortung namentlich für einen ausreichenden Grundschulunterricht vernachlässigen würde, wenn er diese Rolle privaten konfessionellen Schulen überliesse. Der kantonsinterne Zwist fand schliesslich den Weg zu den Bundesbehörden, was zu einer vertieften Analyse der Tragweite von Artikel 27 führte.

Sowohl die Botschaft des Bundesrates zur Luzerner Verfassung als auch die nachfolgenden Debatten in den Räten führten zu einer Interpretation, die der Neuenburger Ständerat und spätere Bundesrat Numa Droz prägnant zusammenfasste: «Drei Bedingungen sind notwendig, [um eine ausreichende Schulbildung zu gewährleisten]: 1) Ein gut aufgestellter Lehrplan 2) Ein fähiger Lehrer 3) Der regelmässige Schulbesuch. Jeder Primarschulunterricht, der diese Bedingungen nicht erfüllt, ist nicht ausreichend. Die zivile Behörde hat die Pflicht, dafür zu sorgen, dass diese Bedingungen erfüllt sind». Nach dieser Feststellung konnte die Garantie der Luzerner Verfassung gewährt werden, wonach es den öffentlichen Behörden oblag, den ausreichenden Primarschulunterricht sowohl in öffentlichen als auch in privaten oder konfessionellen Schulen zu überwachen und zu gewährleisten.

Auch im Kanton Waadt führten die Entwicklungen in der Verfassung und im Schulrecht zu Befürchtungen, der Staat könnte die Freiheit zur Gründung und Führung von Privatschulen einschränken. Die Debatte war dabei nicht nur auf katholische Konfessionsschulen beschränkt, obwohl diese einen dominierenden Platz einnahmen, sondern umfasste auch weitere Aspekte der Unterrichtsfreiheit, insbesondere im Zusammenhang mit dem Privatunterricht zu Hause oder in anderen privaten, auch protestantischen, Einrichtungen. Die Frage nach der staatlichen Aufsicht über diese Bildungsformen hat bis heute nichts an Relevanz eingebüsst – man denke nur an die aktuellen Diskussionen rund um die Regulierung des «Homeschoolings».

In den Jahren vor und nach der Annahme der Verfassung vom 29. Mai 1874 mussten sich die eidgenössischen Räte mit einer grossen Anzahl von Anträgen oder Beschwerden befassen, die in alle möglichen Richtungen gingen und verdeutlichen, welche Bedeutung dem Thema beigemessen wurde. Der Artikel in La Liberté vom 15. April 1881 über das freiburgische Gesetz über die öffentliche Bildung zeigt diese Situation sehr gut auf.

Die Verteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen

Die Grundzüge des Streits, der durch das Eingreifen des Bundes in kantonale Schulangelegenheiten entfacht wurde, bieten ein anschauliches Beispiel für die Auseinandersetzung über den Einfluss des Bundes auf die Kantone in der Bildungspolitik. Bereits am 3. Juni 1874 hatte der Bund die Kantone aufgefordert, ihm Unterlagen vorzulegen, die den Nachweis eines «ausreichenden Grundschulunterrichts» erbringen sollten. Dabei wurden die Kantone gebeten, etwaige Defizite aufzuzeigen und Lösungsvorschläge zu unterbreiten. Nachdem die meisten Kantone ihre Schulgesetze teilweise oder vollständig überarbeitet hatten, forderte der Bund die Kantonsregierungen 1877 erneut auf, alle relevanten Dokumente einzureichen (pädagogische und statistische Berichte, Primarschullehrpläne, eine Liste der verwendeten Lehrmittel). 

Der Neuenburger Bundesrat Numa Droz wollte die Grundsätze des Verfassungsrechts durch eine Koordination der kantonalen Schulpolitik durchsetzen, wie er an einer Konferenz vom 11. Oktober 1882 in La Chaux-de-Fonds erklärte und von der Zeitung LImpartial in den Ausgaben vom 17., 18. und 19. Oktober 1882 wiedergegeben wurde. Er hielt ein Schulgesetz auf Bundesebene nicht für unbedingt notwendig, befürwortete aber die Schaffung des Amtes eines eidgenössischen Erziehungssekretärs. Der am 26. November 1882 zur Abstimmung vorgelegte Text wurde als erster Schritt einer Reihe von Gesetzesentwürfen im Bereich der Schulpolitik interpretiert. Das Vorhaben führte schliesslich zu einem Schulterschluss der Ultramontanen und der Föderalisten, die beide eine Beschneidung der Kantonsautonomie in diesem Bereich ablehnten (siehe auch den Artikel in der Gazette de Lausanne vom 23. November 1882). Die klare Ablehnung führte 15 Jahre später zur Gründung der EDK als typisch helvetische Lösung des Schulstreits, wie Hans Badertscher auf den ersten Seiten der Festschrift zum 100-jährigen Bestehen der EDK festhält.

In den ersten fünf Jahren nach ihrer Gründung setzte sich die EDK deshalb in erster Linie mit der Ausarbeitung eines neuen Verfassungsartikels auseinander, der es dem Bund ermöglichen sollte, sich an der Finanzierung der Primarschulbildung zu beteiligen, ohne die Autonomie der Kantone in irgendeiner Weise zu tangieren. Artikel 27bis der Bundesverfassung wird am 23. November 1902 angenommen, das entsprechende Bundesgesetz am 25. Juni 1903 verabschiedet.

Karikatur zur Abstimmung vom 23. November 1902, erschienen im Nebelspalter
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Karikatur zur Abstimmung vom 23. November 1902, erschienen im Nebelspalter


Artikelserie 150 Jahre obligatorische Schulpflicht


Einstiegsseite 

Ergänzend zu dieser Reihe bietet das Informations- und Dokumentationszentrum IDES, in Zusammenarbeit mit dem «Institut de recherche et de documentation pédagogique (IRDP)» der CIIP, die dieses Jahr ebenfalls ihr 150-jähriges Bestehen feiert, eine thematische Sammlung an.

Zur thematischen Sammlung Informations- und Dokumentationszentrum IDES

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Kontakt

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